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Anna Sax ist mein Name.  

Geboren 1916. Gestorben am 28. 5. 1934. Generation IX

 

Kurz wie mein Name ist auch mein Leben.

Natürlich hätte ich gerne länger gelebt. Leider suche ich mir in jedem meiner Leben ein Schicksal aus, das mir kein langes Glück beschert.

 

Beerdigt werde ich dieses Mal auf dem alten Csolnoker Friedhof.

Meine Mutter ist untröstlich, hat sie doch erst ein Jahr zuvor ihren Mann verloren.

Unsere Grabsteine stehen direkt nebeneinander.

 

Beweint hat sie ihn sicher, ihren Mann. Ein wenig zumindest. Gerade so viel, dass die Leute nicht schlecht über sie reden. Aber geliebt? Wohl kaum. Wie so viele Männer im Dorf hat auch mein Vater viel Zeit in seinem Weinkeller verbracht. Und wenn er abends von dort zurückkam war das wahrlich kein Zuckerschlecken.

 

 

 

Gelobt sei Jesus Christus. Hier ruhet die verunglückte Anna Sax. Alt 18. Jahre. Gestorben den 12. September 1934. Betrauert von Mutter, Großmutter und Geschwistern. Ruhe in Frieden.

Schlummre sanft du teure Tochter in der Erde dunkler Gruft. Bis der Vater in dem Himmel uns zum Wiedersehen ruft.

 

So steht es auf meinem Grabstein.

 

Die Lebenden beneide ich nicht. Durch meinen frühen Tod wurde mir so manches erspart.

 

Ich kam 1916 zur Welt. Als Folge eines Heimaturlaubs meines Vater. Er war im Krieg, wie viele Männer des Dorfes.

 

 

Zwar kam mein Vater an Leib und Leben unversehrt aus dem Ersten Weltkrieg zurück, doch seine Seele hatte Schaden genommen. Mit uns Kindern sprach er nicht mehr. Das überließ er meiner Mutter. Auch das Strafen hat er ihr überlassen. Und das lernte sie im Laufe der Zeit gründlich. Meine Mutter Josefine wusste ihren Kindern Manieren beizubringen. Glücklich sollten sie dadurch nicht werden.

 

 

Wir lebten in der Josef-Siedlung in Csolnok. Eine Bergmannssiedlung, errichtet, um den vielen Familien der Kohlengrubenarbeiter ein Dach über dem Kopf zu geben.

Dieses Haus sollte noch lange in der Familie bleiben.

Zwar zog meine Mutter Josephine aus dem Haus aus, bezog aber das Erdhaus. Im Grunde nur ein großer beheizbarer Raum im Felsen.  Doch dort hatte sie weitgehend ihre Ruhe. Und die junge Generation hatte Ruhe vor ihr.

Denn im Alter war sie kaum freundlicher geworden. Die Kinder hatten Angst in ihre Nähe zu kommen. 

 

Doch das war Jahrzehnte später. Ich sollte es nicht mehr erleben.

Noch bevor der zweite große Krieg ausbricht und unser Dorf in zwei Hälften teilen wird, liege ich schon in meinem Sarg.

 

Auf meinem Grabstein steht, ich sei verunglückt. Ich hätte einen Wirbelbruch erlitten. Den späteren Generationen wird man erzählen,  ich starb an einem Herzversagen. Nun ja, das trifft es wohl nicht ganz.

Natürlich könnte man sagen, ich starb an gebrochenem Herzen. Wie so viele junger Mädchen. Mädchen, die sich verlieben, sich erzählen lassen, sie würden geheiratet werden, sich auf mehr als einlassen als gut für sie ist. Mädchen, die beim Versuch die Frucht des Verliebtseins wieder los zu werden ihr Leben lassen. Nicht gerade weil ihr Herz gebrochen ist, eher wohl am Blutverlust.

 

Aber ich bin es gewohnt, jung zu sterben.

Ich kann mich kaum mehr erinnern, wie oft mir mein Name Anna schon gegeben wurde. Er scheint mir kein Glück zu bringen.

 

So oft wurde ich schon beerdigt, dass mir die Prozedur mehr als vertraut ist.

Der Friedhof ist mir schon ein heimeliger Ort geworden.

 

Der alte Friedhof befand sich bis 1770 in unmittelbarer Nähe der Kirche, nämlich in dem Hinterhof der Kirche. Da es aber sehr schnell zu Platzmangel kam, hat man nach einigen Jahrzehnten etwas höher, am Fuß des Kalvarienberges einen neuen Friedhof eröffnet.

 

Ich kenne sie beide, die Friedhöfe, den alten und den neuen. Sie gefallen mir beide. Der neue, auf dem ich dieses Mal beerdigt werde, ist schön ruhig. Es gibt kaum Kinder, die lärmen und spielen.

Wer weiß, dieses Mal entscheide ich mich vielleicht zu bleiben.

 

Ein jedes Mal, wenn ich zu Grabe getragen wurde, kostete ich meiner Familie Geld. Ein wenig Geld, wenn ich noch ganz klein starb. Ein gutes Sümmchen, wenn ich älter war.

So war es denn dieses Mal nur recht, dass die Familie Sax Mitglied im Leichenverein war.

 

Der „Csolnoker Leichenverein unter dem Schutzpatron des Heiligen Johann von Nepomuk" wurde am 25 März 1913 mit ungefähr 1000 Mitgliedern gegründet. Mit dem Ziel sich gegenseitig zu helfen. Ein jedes Mitglied hatte einen bestimmten Betrag in die Kasse einzuzahlen. Wer dann ein ordentliches Mitglied war, dem wurden die Begräbniskosten mitfinanziert. Das war besonders dann eine große Hilfe, wenn es mehrere Todesfälle in kürzerer Zeit in der Familie gab, z. B. bei Epidemien. Unten im Vereinshaus stand der Leichenwagen, die Windlichter, die Vereinsfahne und kleinere Ausrüstungsgegenstände zur Beerdigung.

 

Es war höchste Zeit den Leichenverein zu gründen. Gestorben wurde im Dorf schon immer viel.   Die Säuglingssterblichkeit war, wie überall, sehr hoch.

Zu früh geboren, Lungenentzündung, Tuberkulose. Diphterie, Keuchhusten, Durchfall, Scharlach, Masern und Schüttelkrampf waren nur einige der Todesursachen der Neugeborenen.  An Lungenentzündung starben auch viele Erwachsene. Oder an Herzschwäche, Gehirnhautentzündungen, Nierenerkrankungen, Darmgeschwüren, Gehirnblutungen, sowie der „Wasserkrankheit".

Im Bergwerk gab es sehr viele Unfälle. Die Männer erstickten, stürzten in die Tiefe, wurden von Steinen erschlagen oder kamen ganz einfach nie wieder ans Tageslicht.

 

Selbstmordfälle gab es selten. Offiziell. Auf dem neuen Friedhof gibt es nur fünf, die sich das Leben nahmen.  1908 (22 Jahre alt) durch Dynamit; 1911 (51 Jahre alt) durch Aufhängen; 1917 (45 Jahre alt) durch Ertrinken im Brunnen; 1955 (61 Jahre alt) durch Aufhängen; 1960 zwei Fälle (je 21 Jahre alt) durch Aufhängen. Die Selbstmörder wollte man nicht auf dem christlichen Friedhof habe. Wer sein Leben nicht ertrug, versündigte sich. Sie sollten im Friedhofsgraben beerdigt werden. Doch wer genug Geld hatte, versuchte, vom Arzt eine Bestätigung über einen unerwarteten und schnellen Tod zu bekommen, um die Toten doch auf dem Friedhof unterzubringen.

 

Bei mir wurde ein „Verunglücken“ attestiert.

 

Darum darf ich hier, neben meinem Vater liegen. Auch wenn er zu seinen Lebzeiten kaum an mir interessiert war.

 

Der Tod ist mir so vertraut, dass ich über den Aberglauben der Leute nur lachen kann.

 

Sie sagen, dass dort, wo der Totenvogel, die Eule, in der Nacht schreit, wird es bald einen Todesfall im Haus geben.

Sie sagen, dort, wo der Hund Löcher gäbt und nachts heult, würde bald jemand sterben.

Oder wo ein Spiegel oder ein Bild zu Boden fällt.

Ob das bei mir der Fall war, kann ich nicht sagen.

 

Doch was getan werden muss, wenn der Tod da war, das weiß ich wohl.

 

Alle Spiegel im Haus müssen mit einem schwarzen Tuch bedeckt werden. Denn wenn der Tote sich im Spiegel erblickt, kommt er wieder.

 

Die Pendeluhr muss in der Minute des Todes angehalten werden. Denn die Zeit, das Leben für den Toten bleibt dann auch stehen.

 

Wenn jemand im Sterben lag, holte man schnell den Pfarrer, um die Beichte abzunehmen.

Bei mir wurde er dieses Mal nicht geholt. Ich hätte ihm sicher nicht gebeichtet. Als mit dem Blut das Leben aus mir verschwand, kamen keine Betweiber, um den Rosenkranz zu beten. Niemand kam, um mir beizustehen. Nur die Hebamme hielt meine Hand. Um ihr Gewissen zu beruhigen, weil sie ihre Arbeit nicht so gut gemacht hatte, wie sie es tun wollte.

Die Hebammen sind mir wohl bekannt. Viele Male starb ich noch am Tag meiner Geburt. Dann wurde ich so schnell wie möglich getauft. Meist von der Hebamme, denn die hatte bei den Neugeborenen das Recht zu taufen.

 

Als ich dann gestorben war, wurde ich in der vorderen Stube auf dem großen Tisch aufgebahrt.  Zwei Tage lag ich da, wie es Sitte ist. Um sicher zu gehen, dass ich nicht doch noch aufwachen würde. Das tat ich aber nicht. Sie wuschen mich, damit ich mit gereinigter Seele ins Himmelreich eintreten konnte. Als sie fertig waren, zerbrachen sie die Waschschüssel und verbrannten den Fetzen, damit diese Gegenstände von niemandem mehr benutzt werden konnten.

Sie zogen mir mein schönstes Kleid an, das seidene, das ich sonst nur zu den hohen Festtagen trug. Sie banden mir die Haare zu einem Schopf, setzten mir einen Wachskranz auf und gaben mir mein Messbuch in die gefalteten Hände , damit ich aussah, wie eine Braut

 Und obwohl ich kein kleines Kind mehr war, gaben sie mir auch noch ein Heiligenbilder in der Hand.

Sie bedeckten mich bis zum Gürtel  mit einem hellen Leichentuch und betteten meinen Kopf auf ein seidenes Kissen.

So viel Zuwendung hatte ich zu Lebzeiten niemals bekommen.

 

Der Onkel wurde zum Pfarramt geschickt, um meinen Tod bekannt zu geben. Ein schwarzes Tuch wurde im Gang aufgehängt, um den Todesfall anzuzeigen.

Zur Mittagszeit wurde das Totenglöckchen geläutet.

 

Doch all das wollte der junge Kerl nicht sehen und nicht hören, der mich in Grab gebracht hatte. Für ihn würde das Leben weitergehen. Niemand sah ihm seine Schande an. Er würde nicht am gebrochenen Herzen sterben.

 

Drei Tage dauerte die Totenwache.

 

Eine Stunde vor der Beerdigung musste dann alles fertig sein. Die Familie sprach das Rosenkranzgebet. Der Pfarrer kam mit den Ministranten. Sie zogen mir das Leichentuch über den Scheitel. Die Patentante schnitt das Leichentuch vor dem Gesicht auf, damit ich nicht in voller Dunkelheit sei, wenn ich ins Himmelreich einkehre.

 Der Sarg wurde im Hof verschlossen; das war jedes Mal der traurigste Moment für die Familie.

Nun mussten sie endgültig Abschied nehmen. Das war nicht leicht zu ertragen. Der Pfarrer hielt die Abschiedsrede und es wurde gesungen

Vielleicht würde es ihnen nicht so schwer fallen, wenn sie wüssten, wie schnell die Zeit auch für sie um sein wird.

Früher war die Beerdigung ein wenig anders.

Vor der Gründung des Leichenvereins haben die sechs Sargträger, das Patenkind, der Firmpate oder seine Söhne und das Firmenkind) den Sarg auf den Schultern zu Fuß zum Friedhof tragen müssen.

Jetzt stellt der Leichenverein den Leichenwagen zur Verfügung. Der Wagen ist mit einem schwarzen Tuch, das einen goldenen Rand hat, bedeckt. Vor den Leichenwagen werden zwei Pferde gespannt. Jedes wurde mit einem Häubchen und einer schwarzen Decke mit goldenem Band geschmückt. Der Fuhrmann hat  einen schwarzen Mantel und Hut an.

 

Der Totenzug muss immer die gleiche Reihenfolge haben. Vorne marschierte die Blaskapelle, dann folgen der Pfarrer und die Ministranten. Dahinter der Chor und die Fahnenträger. Die Aufgabe, die Fahnen zu tragen, bekommen immer die Pateneltern. Stirbt ein Mann, werden drei Fahnen, bei einer Frau, zwei Fahnen getragen. Bei Kindern wird nur eine Fahne getragen. Den Fahnenträgern folgte ein Patenkind mit dem Grabkreuz aus Holz. Auf dem Kreuz steht auf einem Schildchen der Name des Verstorbenen und das genaue Geburts- und Sterbedatum. Dieses Kreuz wird so lange nach der Beerdigung am Grab aufgestellt, bis der Grabstein fertig ist. Hinter diesem Kind kommt der Leichenwagen mit dem Sarg. Sechs Männer trugen die Windlichter. Direkt nach dem Leichenwagen gehen entweder die Kinder oder die Eltern und nächsten Verwandten der Toten. Zuletzt kommen die Freunde, die Nachbarn, die Bekannten. Später brauchte man noch sechs junge Männer, um den Sarg von der Leichenhalle zur Begräbnisstätte zu tragen.

 

Stirbt ein kleines Kind, so tragen die Sargträger statt des schwarzen, ein weißes Band und bei größeren Kindern ein hellblaues. Ist der Verstorbene ein Jugendlicher (so ab dem 15. Lebensjahr), wird der Totenzug so veranstaltet, als wäre er ein Hochzeitszug. Die Mädchen ziehen sich als Brautjungfer an und tragen einen Myrtenkranz aus Wachs auf dem Kopf, die Jungen haben einen Rosmarinzweig mit einem weißen Bändchen auf ihren Anzug gesteckt. Auch der Pfarrer ist anders angezogen als sonst, er trägt nur ein Priesterhemd und kein Messkleid

 

Am Anfang der Zeremonie bekommt ein jeder, der zur Beerdigung kommt, eine Kerze.

 

Die Verwandten, Bekannten und Freunde bringen für die Beerdigung einen Kranz aus Wachsblumen mit.

Wenn der Totenzug das Grab erreicht, wird es vom Pfarrer gesegnet. Der Sarg wird ins Grab hinuntergelassen. Der Pfarrer wirft mit einer kleinen Hacke ein wenig Erde in das Grab. Die Familie tut es ihm nach. Sie haben von daheim eine kleine Flasche Weihwasser mitgebracht mit dem sie das Grab segnen.

 

Nun werden sie noch lange schwarz tragen müssen. Und wenn ein Jahr vorbei ist, werden sie nochmals eine Messe für mich lesen lassen. Vielleicht auch noch öfter. Wir werden sehen.

 

Ich hoffe, sie grämen sich nicht allzu sehr.

Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich beerdigt werde.

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